Zum Tod von Alain Tanner

Diverses 12. September 2022

Der Cineast Alain Tanner ist am Sonntag, 11. September 2022, im Alter von 92 Jahren gestorben. Er war zweifellos einer der bedeutendsten Regisseure der Schweiz und prägte die Filmgeschichte mit seinen 20 Spielfilmen und zahlreichen Dokumentarfilmen, darunter den unvergesslichen Werken La Salamandre (Der Salamander), Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 (Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird), Messidor und Dans la ville blanche (In der weissen Stadt). Als Mitbegründer der Gruppe 5 mit Claude Goretta, Michel Soutter, Jean-Louis Roy und Jean-Jacques Lagrange war er eine der leitenden Persönlichkeiten des «Nouveau cinéma suisse», der sich Ende der 1960er-Jahre durchsetzen sollte. Ausserdem war er massgeblich an der Entstehung des ersten Filmgesetzes der Schweiz im Jahr 1963 beteiligt und kämpfte viele Jahre für öffentliche Unterstützung und Anerkennung der siebten Kunst.

Alain Tanner wurde 1929 in Genf geboren, hegte schon früh eine Leidenschaft für das Kino und gründete mit seinem Freund Claude Goretta 1951 den Filmclub der Universität Genf. Beide waren vom britischen Free cinema – insbesondere von der Arbeit von Lindsay Anderson – fasziniert und reisten 1955 nach London, wo sie Ende der 50er-Jahre am British Film Institute arbeiteten und 1957 den Kurzfilm Nice Time drehten, der ihnen einen Preis am Festival von Nizza und eine Einladung nach Venedig einbrachte.

Zurück in Genf stellten sie für die Télévision suisse romande zahlreiche Reportagen her, darunter mehrere für die Sendung «Continent sans visa». Gleichzeitig realisierte Tanner verschiedene Auftragsfilme wie L’école (1962), ein Polyvision-Film über die Architektur von Schulen für die 12. Triennale in Mailand, und Les Apprentis (Die Lehrlinge), ein langer Dokumentarfilm über die Lehre, der an der Expo 64 in Lausanne gezeigt wurde. 1968 weilte Alain Tanner in Paris, wo er die Mai-Ereignisse für die TSR filmte (Le pouvoir dans la rue). Aus dieser Erfahrung entstand sein erster Langspielfilm: Charles, mort ou vif (Charles – tot oder lebendig) (1969), der für die Semaine de la Critique in Cannes ausgewählt wurde und in Locarno den Goldenen Leoparden gewann.

Dieser erste Spielfilm, der gemeinsam mit John Berger und dem Kameramann Renato Berta – damals noch in seinen Anfängen – entstand und in dem Jean-Luc Bideau seinen ersten Auftritt hatte, steht sinnbildlich für das gesamte Werk des Cineasten: ein engagiertes und kritisches Kino, das stets im Dialog mit der aktuellen Welt bleibt. Es ist bemerkenswert, wie sehr dieser Film durch seine Gedanken zu Freiheit, Ökologie und zur Ablehnung der von der Gesellschaft auferlegten Zwänge heute noch bei einem jungen Publikum nachhallt. Zwei Jahre später entstand die Figur Rosemonde (Bulle Ogier) im Film La Salamandre (1971) (Der Salamander), der in der Quinzaine des réalisateurs in Cannes gezeigt wurde: die Figur einer Rebellin, die sich jeder etablierten Ordnung widersetzt, eine mutige Kritikerin des Konformismus und der bürgerlichen Schweiz. Der Film stiess zwar international auf Erfolg, insbesondere in Frankreich, in der Schweiz jedoch weniger, sodass ihn Tanner selber verleihen musste!

In der Folge entwickelte Alain Tanner ein bemerkenswertes Werk, das von Erfolgen und internationalen Auszeichnungen geprägt war. Erwähnt sei vor allem Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 (1976) (Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird), in dem er auf die unerfüllten Träume von ’68 zurückkommt. Nach Messidor (1978), in dem die Gewalt in die Revolte seiner Figuren einbricht, wechselte er das Register – und das Land – und reiste nach Irland, um den Roman Les années lumière (Lichtjahre entfernt) zu verfilmen, in dem sein Protagonist (Trevor Howard) davon träumt, wie Ikarus zu fliegen. Der Film gewann den Grossen Preis am Festival von Cannes. Dann ging er, der in seiner Jugend zwei Jahre in der Handelsmarine gearbeitet hatte, nach Portugal und filmte den wunderbaren Streifzug eines Matrosen an Land, der von Bruno Ganz verkörpert wird: Dans la ville blanche (1983) (In der weissen Stadt) erhielt einen César für den besten französischsprachigen Film. Danach kehrte er in die Schweiz zurück und drehte No Man’s Land (1985), wechselte dann zwischen intimeren Werken wie La vallée fantôme (1987) (Das Geistertal), in dem Paul (Jean-Louis Trintignant), sein Doppelgänger, sich Gedanken über das Kino macht, und politischeren Werken wie La femme de Rose Hill (1989) (Die Frau aus Rose Hill) über «arrangierte» Ehen mit Frauen aus dem Süden. Bis hin zu einer Art Film-Testament, in der er allen mitteilt, dass er keine Filme mehr machen wird: Paul s’en va (2004) (Paul geht fort).

Als Freund von Freddy Buache hatte Alain Tanner sein ganzes Archiv in der Cinémathèque suisse hinterlegt, die ihm 2010 in seiner Anwesenheit eine Retrospektive widmete. 2011 kehrte er zurück, um die sehr umfassende Website über ihn zu lancieren alaintanner.ch. Parallel dazu arbeitet unsere Institution für die Restaurierung und Digitalisierung all seiner Filme mit der Association Alain Tanner zusammen. Bald werden diese Arbeiten abgeschlossen sein, was eine Verbreitung der meisten seiner Werke in der Schweiz und im Ausland ermöglichen wird. Schliesslich möchten wir erwähnen, dass in unseren Archiven wichtige Forschungsarbeiten stattfinden, die von Professor Alain Boillat geleitet, vom SNF finanziert und im Rahmen der Zusammenarbeit UNIL-Cinémathèque suisse durchgeführt werden: Le scénario chez Alain Tanner : discours et pratiques. In diesem Kontext wird Alain Boillat demnächst ein Buch in der Reihe Savoir suisse der EPFL Press veröffentlichen: Alain Tanner : 50 ans de cinéma d’auteur. Am Mittwoch, dem 28. September, zeigen wir Der Salamander (1971), bevor wir Alain Tanner demnächst ausführlicher würdigen werden Die Cinémathèque suisse spricht der Familie und den engen Freunden von Alain Tanner ihr herzliches Beileid aus.

Frédéric Maire

Auf dem Set von "Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000" (1976)