Gute Reise, Claude Goretta

Diverses 21. Februar 2019

Wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag, den er am 23. Juni gefeiert hätte, hat sich der Regisseur Claude Goretta gestern Nachmittag an seinem Wohnort in Genf verabschiedet. Mit ihm verlässt uns einer der grössten Cineasten des schweizerischen und französischsprachigen Films, einer der Gründer der berühmten Groupe 5 mit Alain Tanner, Michel Soutter, Jean-Louis Roy und Jean-Jacques Lagrange; ein zutiefst menschlicher, kreativer Geist, der die siebte Kunst (und den Fernsehfilm) stark geprägt hat. Wir hatten das Glück, ihm 2011 in seiner Anwesenheit eine umfassende Hommage widmen zu können.
Der Gründer des Filmklubs der Universität Genf im Jahr 1951, der grosse Filmliebhaber, begab sich nach London, wo er am British Film Institute als Assistent junger Regisseure des Free Cinema arbeitete. Mit seinem Kolleg Alain Tanner, der ihm nachreiste, realisierte er den Kurzfilm Nice Time (1957), der ihnen in Venedig einen Preis einbrachte und ihnen die Tore zur Welt der Audiovision weit öffnete. Schon kurz darauf engagierte sie das Westschweizer Fernsehen (TSR), für das sie beide zahlreiche Filme machten: Reportagen und Dokumentarfilme für die beliebte Sendung Continents sans visa sowie Spielfilme, Theaterstücke und Fernsehfilme.
Claude Gorettas Werk zeigt deutlich, dass seine dokumentarische Arbeit die Fiktion ständig genährt hat, insbesondere in Filmen wie L’Invitation (1973), La Dentellière (1976) und La Mort de Mario Ricci (1982), die alle auf Begegnungen oder anderen Ereignissen beruhen, die er dokumentiert hat. Auch im Fernsehen bestätigte Goretta seine Fähigkeit, den Schauspielern, mit denen er arbeitete, die volle Entfaltungsmöglichkeit zu geben, sei es in den berühmten Theaterstücken, die er im Studio drehte oder in seinen ersten Spielfilmen, die er draussen drehte, wie Jean-Luc persécuté (1965) mit einem hervorragenden Maurice Garrel. Er machte François Simon in Fou (1970) zu einem unvergesslichen Verrückten und in L’Invitation zu einem rätselhaften Butler neben Jean-Luc Bideau, der einen leuchtenden Clown verkörpert im Park der Villa des bescheidenen von Michel Robin gespielten Büroangestellten.
Nach diesem entscheidenden Film, der in Cannes ausgezeichnet wurde, drehte Goretta fünf aussergewöhnliche abendfüllende Filme, für die er oft damals noch unbekannte Schauspieler engagierte – die aber später eine bemerkenswerte Karriere machen sollten: Pas si méchant que ça (1974) mit Gérard Depardieu und Marlène Jobert, La Dentellière (1976) mit Isabelle Huppert, La Provinciale (1981) mit Nathalie Baye, Angela Winkler und dem eben verstorbenen Bruno Ganz, La Mort de Mario Ricci (1982) mit Gian Maria Volonté, Magali Noël und Heinz Bennent, Si le soleil ne revenait pas (1987) mit Charles Vanel, Catherine Mouchet und Philippe Léotard und L’Ombre (1992) mit Jacques Perrin und Pierre Arditi.
Doch trotz Einladungen an die grössten Festivals – insbesondere nach Cannes – und unzähliger Auszeichnungen gab Claude Goretta das Fernsehen seiner Anfänge nie ganz auf, als ob er dort eine Freiheit oder eine Form der Leichtigkeit der Produktion fände, die ihm die grosse Kinomaschinerie nie erlaubte. So realisierte er 1975 ein TV-Theaterstück, Passion et mort de Michel Servet, das von Georges Haldas geschrieben und von den Schauspielern Michel Cassagne, Maurice Garrel und Roger Jendly interpretiert wurde. 1978 entstand die Miniserie Les chemins de l’exil ou Les dernières années de Jean-Jacques Rousseau mit François Simon.
Ab den 90er-Jahren, nach einer neuen Adaption des Romans von Pierre Véry, Goupi Mains Rouges, drehte er mehrere (Fernseh-)Filme: Le Dernier été (1997) mit Jacques Villeret und Catherine Frot oder Sartre, l’âge des passions (2006) mit Denis Podalydès, und erwies sich zudem als brillanter Adapteur von Georges Simenon, wie die vier von dessen Werk inspirierten Filme – darunter drei Maigret mit Bruno Cremer – zeigen.
Claude Goretta gehörte zu jenen Filmschaffenden, die sich den Menschen zuwenden und deren Geschichte dann in einer Fiktion erzählen und sie dadurch vermitteln, sichtbar, verständlich und fühlbar machen. Deren Inszenierung passt sich an die Wirkung einer Aktion, eines Gefühls an. Eine einzige Geste, ein einziger Ton sagt mehr aus als ein stilistischer Effekt. Claude Gorettas Werk, genährt von seinen Erfahrungen mit Fernsehreportagen, ist ein Beispiel dafür.
Man denke an die unzähligen Lächeln in L’Invitation: Keines ist gleich wie das andere. Sie sind entweder erzwungen, reumütig, strahlend, verfänglich, ironisch … Und jedes Mal erzählt der Gesichtsausdruck etwas über den Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Klassen und den äusserlichen Erscheinungsbildern, die im Genfer Park auftreten. Lauschen Sie dem, was uns der Springbrunnen zuflüstert, der regelmässig und automatisch den weiten Park des bescheidenen Büroangestellten Rémy Placet wässert, der zu Reichtum gekommen ist. Man muss sich ihm nur nähern, um die Regeln und Erscheinungen durcheinander zu bringen. Um Spiel in die Ordnung der Dinge zu bringen.
Claude Gorettas Filme gehen vom Menschen aus und entwickeln sich aus ihm – niemals gegen ihn. Doch das Leben bleibt brutal. Mehr als eine Figur wird leiden müssen, damit sie überleben kann (man denke an La Dentellière: ein echter Horrorfilm). Sein Universum kennt kein Erbarmen mit den kleinen Leuten. Doch Claude Goretta hat sie immer ins Rampenlicht gestellt, um ihnen ihre Würde zurückzugeben.
Es ist erstaunlich, wie modern und relevant Claude Gorettas Werk heute noch ist. Vermutlich liegt der Grund darin, dass seine Schlichtheit und formale Leichtigkeit nie erzwungen wirken. Und dass wir in den Figuren – den kleinen Leuten, den Unterdrückten – nach wie vor unsere Nächsten, unsere Nachbarn, uns selber sehen.
2011 widmete die Cinémathèque suisse dem Werk von Claude Goretta in Zusammenarbeit mit RTS eine umfassende Retrospektive und zeigte eine grosse Auswahl seiner Arbeiten fürs Fernsehen. Parallel dazu entstand ebenfalls mit RTS eine DVD, die nebst L’Invitation auch eine Auswahl seiner Reportagen für die TSR und ein von Lionel Baier für diesen Anlass realisiertes Portrait enthält. Sie trägt den Titel Bon vent Claude Goretta – gute Reise, Claude Goretta. Ein Titel, der heute seine ganze Bedeutung entfaltet …
Frédéric Maire
Direktor der Cinémathèque suisse
Aufnahme der Abendveranstaltung zu Ehren von Claude Goretta im Capitole, am 10. November 2011

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